Forderungskatalog anlässlich der Reise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Songea (Tansania) am 01.11.2023
Präambel
Tansania war von 1885 bis 1918 Teil der Kolonie "Deutsch-Ostafrika". Gewalt, illegitime Landnahme, zivilisatorische Mission, ausbeuterische Politik sowie Eingriffe in etablierte soziokulturelle Gesellschaftssysteme haben in Tansania wie in Deutschland ihre Spuren hinterlassen.
Gegen die Deutschen leisteten viele Ostafrikaner:innen von Anfang an Widerstand, der die koloniale Herrschaft in Frage stellte. Es wird von etwa 50 bis 60 bewaffneten Zusammenstößen ausgegangen, die bekanntesten sind die Widerstandskämpfe der ostafrikanischen Küstenbevölkerung (1888–1890) und der Wahehe (1891-94) sowie der Maji-Maji-Krieg (1905-1907/1908), der in einem der größten Vernichtungskriege der deutschen Kolonialgeschichte gipfelte. Als sich im südlichen Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania eine breite Widerstandsbewegung formierte, schlugen die deutschen Truppen diese blutig nieder und zerstörten in einer Strategie der verbrannten Erde gezielt und erbarmungslos Felder, Saatgut, Brunnen und ganze Siedlungen. Kämpfen, Hinrichtungen und Hunger fielen Schätzungen zufolge bis zu 300 000 Menschen zum Opfer.
Für die Menschen der betroffenen Communities sind die Folgen des Maji-Maji-Krieges in verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens, der Kultur und der Gesellschaft bis heute zu spüren. Als Kolonialerbe gilt beispielsweise, dass die Gegenden Südtansanias (also dem Kriegsschauplatz) im Vergleich zum Rest des Landes arm sind und eine höhere Kindersterblichkeit und ein niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen aufweisen. Durch die ausbeuterische Plantagenwirtschaft zerstörten die deutschen Kolonialist:innen Systeme der Subsistenzwirtschaft und schafften Abhängigkeiten, die auch heute noch als koloniale Kontinuität wirken. Der Maji-Maji-Krieg gilt zwar für viele Tansanier:innen aufgrund der Vereinigung verschiedener Volksgruppen gegen die Kolonialist:innen als wichtiges Symbol nationaler Identität. Gleichzeitig wirken die Geschehnisse traumatisch und transgenerational bis heute nach. Die Nachfahr:innen des getöteten Widerstandskämpfers Songea Mbano beispielsweise sind weiterhin auf der Suche nach dessen Haupt, das für rassistische pseudowissenschaftliche Forschungen nach Deutschland verschleppt wurde.
Aufarbeitung der Kolonialgeschichte
Vor diesem Hintergrund begrüßen die unterzeichnenden Organisationen ausdrücklich die Reise von Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier nach Songea, wo er am 01.11. 2023 das Maji-Maji-Memorial Museum und damit die Gräber der Widerstandskämpfer:innen des Maji-Maji-Krieges besuchen und Gespräche mit ihren Nachfahr:innen führen wird.
In seiner Rede zur Eröffnung des Deutschen Historikertags am 19. September 2023 in Leipzig plädierte der Bundespräsident explizit für eine selbstkritische Auseinandersetzung der Europäer:innen mit ihrer Verantwortung für den Kolonialismus. Auch der derzeitige Koalitionsvertrag setzt die Aufarbeitung des Kolonialismus explizit auf die Agenda der Ampel-Regierung.
In verschiedenen Kontexten erleben wir derzeit jedoch, dass bei dieser Aufgabe Symbolakten mehr Bedeutung beigemessen wird als konkreten, nachhaltigen und verbindlichen Maßnahmen in gemeinsamen Absprachen mit Tansanier:innen, die den Menschen in den ehemaligen deutschen Kolonien gerecht werden.
Die unterzeichnenden Akteure und Organisationen fordern den Bundespräsidenten daher eindringlich dazu auf, bei seinem Besuch in Songea klare Worte zu finden und diesen für eine Bitte um Entschuldigung Deutschlands bei den Nachfahren der Opfer des MajiMaji-Kriegs und aller von Deutschen begangenen Kolonialverbrechen im damaligen „Deutsch-Ostafrika“ zu nutzen. Denn eine solche Bitte um Entschuldigung ist die Voraussetzung für jede konkrete Erinnerungsarbeit und unerlässlich für eine zukunftsfähige deutsch-tansanische Zusammenarbeit, sei es auf politischer, institutioneller oder zivilgesellschaftlicher Ebene.
Seit vielen Jahren rufen zivilgesellschaftliche Gruppen sowie wissenschaftliche und kirchliche Akteure dazu auf, endlich die koloniale Unrechtsherrschaft Deutschland als solche anzuerkennen und systematisch aufzuarbeiten.
Aus Anlass der Reise von Bundespräsident Steinmeier erneuern wir deshalb unsere Forderungen an deutsche Politiker:innen der Bundes- und Landesregierungen.
Neben der Bitte um Entschuldigung fordern wir:
- die Restitution aller Kulturschätze, die während der Kolonialzeit nach Deutschland verbracht wurden
- die Repatriierung aller Ahnen / Körperteile aus Tansania, die in deutsche Sammlungen verbracht wurden
- ein entsprechendes Gesetz,dass deutsche Institutionen zur Repatriierung von Ahnen verpflichtet
- die Einrichtung eines Expert:innenrats, vorrangig besetzt aus Vertreter:innen der Herkunftsgesellschaften, um das Gesetzgebungsverfahren zu begleiten
- Die Einrichtung eines Repatriierungszentrums in Tansania zum Wissensaustausch, für Provenienzforschung und als Anlaufstelle für die Nachfahr:innen und Communities
- die Aufnahme von Verhandlungen mit den vom deutschen Kolonialismus besonders betroffenen tansanischen Communities/Regionen und mit der tansanischen Regierung über Entschädigungen für diese Communities
- die langfristige Bereitstellung von finanziellen Mitteln für
- weitere DNA-Analysen zur Identifikation von nach Deutschland verschleppten Ahnen
- die Repatriierung von Ahnen an die Nachfahr:innen
- die Restitution von Kulturgütern
- die Förderung und Ausbau deutsch-tansanischer Kulturkooperationen
- die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Initiativen in Tansania und Deutschland in diesem Prozess
- Aufbau und Instandhaltung von kolonialen Gedenkorten in Deutschland und Tansania
- eine kritische Reflexion der deutschen kolonialen Vergangenheit und heutiger Afrikabilder, zum Beispiel indem die aktive Auseinandersetzung mit Rassismus als verbindlicher Bestandteil des Unterrichts in Schulen und staatlichen Bildungseinrichtungen verankert wird.
Die hier formulierten Maßnahmen stellen unserer Ansicht nach entscheidende Schritte auf dem Weg zu Versöhnung und Gerechtigkeit dar.
Folgende Personen und Organisationen unterstützen die oben genannten Forderungen:
- Tanzania-Network.de e.V.
- Berlin Postkolonial
- Flinn Works
- Augsburg Postkolonial
- München Postkolonial
- Leipzig Postkolonial
- Decolonize Berlin e.V.
- AfricAvenir e.V.
- Bantu e.V.
- Schupa Tansania e.V.
- Pambazuka Swahili Kulturverein e.V.
- Verband Afrodeutscher Gründer e.V.
- Verena Holzapfel, Frauke Nesemann, Franziska Fay (Johannes Gutenberg-Universität Mainz), Friederike Kruse, Michael Binder, Ellen Rehder, Camilla Nägler, Dorothee Vakalis, Klaus Bathen, Gerda Finke, Elke Fölster-Mercer, Johannes Macho, Helmut Forberg, Gerald Fiebig, Fritz Gleiß, Renate Wegener, Birgit Merz, Nicole Kraemer, Ludwig und Adelheid Gernhardt (Afrikahilfe Schondorf), Kathrin Schultze-Gebhardt, Arnold Kiel, Regina Misiok-Fisch, Elisabeth Keuten (Decolonize Jena!), Nora Häuser (Karlsruhe Postkolonial), Friedhelm Evermann, Heike van HŌKELOM, Prof. Dr. Rolf Hofmeier (GIGA Hamburg), Nadja Heidrich, Daniel Koßmann, Christiane Rimroth, Steffi Grohmann-Louizou, Dr. Frank Beier, Christoph Beier, Thomas Schiffgens, Johann Prem-Seydel, Dr. Anton Knuth (Missionsakademie Universität Hamburg), Fanny Sigler, Martin Forberg, Robert Faust (Eine-Welt-Laden der KJG Mömlingen), Jan Dammel (Uni Potsdam), Kristin Appelhans, Andreas Reiffenstein (Eine-Welt-Laden der KJG Mömlingen), Annette Bathen (Rafiki Yangu e.V.), Gabriele Schmitz, Sonja Tesch, Carsten Kramer, Natalie Volkwein (DTP e.V.), Rainer Beuthel (Die Linke / Eckernförde / Ortsprecher), Thereza Kwayie, Janos Klieber, Simon Klieber, Petra Gugat, Thomas Fagin, Yeboah-Marfo, Barbara Lembcke, Maria Merz, Manuela Voelkering-Hilbring, Mduduzi Khumalo (Plus X Blackdefinitionmatters), Karsten Schumacher, Hubert Tschuschke, Michael Kraus, Olivia Klimm, Andreas Gugat, Sarah Ewald, Birgit Joosty-Grant, Christa Maria Bauermeister, Tahir Della (Pressesprecher isd —Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland), Larissa de Freitas Campos, Celina Wehrmann, Maria Sauter, Matthias Mehlhorn, Birgit Mehlhorn, Franziska Sievers, Franziska Labinsky, Lucia Mast, Ulrike Bergermann (HBK Braunschweig), Martina Sievers, Judith Ernst, Daniela Billing, Hildegard Kiel, Marlies Kaesler, Lindah Ouma, Charlotte Lonitz, Inga McArdle, Neema Kasabo-Hartmann, Jutta Weiler, Isabelle Reimann, Torsten Strauß (Pro Tandala e.V.), Herbert Gebauer, Bergis Schmidt-Ehry, Tanja Neubüser, Peter Hinze, Sebastian Gebauer
Stand 01.11.2023
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Bildquelle: Grave of Songea Mbano within the Maji Maji museum in the town of Songea, by Downluke - Own work, CC BY-SA 4.0, Link
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