Direkt zum Inhalt

Rezension: Das versteinerte Herz (Abdulrazak Gurnah)

Das versteinerte Herz

Übersetzt von Eva Bonn, Penguin Verlag 2024, 368 Seiten, 26,00€

Rezension des englischen Originals ("Gravel Heart") von Silke Harte aus dem HABARI 2021/4 

Im Roman präsentiert sich der Ich-Erzähler Salim als Wanderer zwischen den Welten, der sich nirgends wirklich zu Hause fühlt. Kindheit und Jugend verbringt er in Sansibar, Studien- und erste Berufsjahre in England, wobei ihn immer wieder Heimweh plagt. Nach dem Tod seiner Mutter kehrt er nach Sansibar zurück, ganz am Ende geht es wieder nach England. Das Buch beginnt mit dem lapidaren Satz „Mein Vater wollte mich nicht.“ Was war da wohl los in dieser Familie? Der Junge stellt Fragen, bekommt aber keine Antwort. Überhaupt nur wenig erklären ihm die Erwachsenen, zu denen außer den Eltern noch Onkel Amir zählt, der Bruder der Mutter. Salims Erinnerungen an die frühe Kindheit sind spärlich, es gab auch schöne Momente mit dem Vater, bruchstückhaft nur sieht er sich mit ihm auf der Treppenstufe vor dem Haus sitzen und Zuckerwatte naschen. Als er sieben ist, verschwindet sein Vater, das Warum bleibt im Dunkel. Irgendeine Schande habe seine Eltern getroffen, glaubt Salim, doch wenn er – von wem auch immer – Genaueres wissen will, hört er gar nichts oder nur Ausflüchte. Was die Familie wirklich zerstört hat, zieht sich als Frage durch die ganze Geschichte.

Nach dem Schulabschluss holt Amir, der inzwischen im diplomatischen Dienst in London arbeitet, den jungen Mann zu sich. Obwohl sich Onkel und Tante bald als rechthaberisch und tyrannisch entpuppen, versucht er, sich ihrem Leben anzupassen. London ist für ihn zunächst nichts als ein Albtraum – der Verkehr, das Straßengewirr, die vielen Menschen aus aller Herren Länder versetzen ihn in Angst und Schrecken. Es fühlt sich an, als verachte ihn die Stadt – Mut, Gier und Stolz scheinen nötig, um dort zu überleben. Vielleicht verarbeitete Gurnah seine eigenen Erfahrungen und Probleme beim Einleben auf dem fremden Kontinent?

Amir will, dass sein Neffe an der Universität das Fach Business Studies wählt, und Salim fügt sich. Er versagt, trennt sich zwei Jahre später von der Familie, schlägt sich allein durch und beginnt endlich mit dem erträumten Literaturstudium. Obwohl er sich nach ein paar Jahren sicher und frei in London bewegt, plagen ihn oft Selbstzweifel, er denkt, er verdiene kein Glück oder hat das Gefühl, etwas reiße ihn auseinander. Seine große Liebe zu einer Frau aus englisch-indischem Elternhaus scheitert am Rassismus ihrer Familie – ein muslimischer Schwarzer aus Afrika ist nicht akzeptabel.

Schließlich trifft Salim in Sansibar doch noch auf seinen Vater, der ihm in langen Nächten erzählt, was in den vielen Jahren passiert ist und damit das tragische Familiengeheimnis lüftet. Das ist nicht nur für den Sohn schwer zu ertragen, sondern auch für die Leser*innen. Gravel Heart, Herz aus Schotter oder Kiesel, – für wen gilt das? Wohl für beide, Vater und Sohn.