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Eure Heimat ist unser Albtraum

Buchtipp: Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah (Hrsg): Eure Heimat ist unser Albtraum, Ullstein fünf, 202 Seiten, ISBN: 978-3-96101-036-3, 20€

Das Buch ist eine Sammlung von Essays, geschrieben von Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind und doch nie ganz dazugehörten, weil „unsere Heimat“ sich exklusiv als Heimat einer weißen Mehrheitsgesellschaft darstellt. So unterschiedlich die Autor*innen auch sind, alle gehören zu Gruppen, die in Deutschland marginalisiert werden: Sie sind Schwarz, muslimisch, jüdisch, lesbisch oder nicht-binär.

Ihre Eltern kommen aus der Türkei, Korea oder dem Iran, ihre Erfahrungen sind verschieden und doch sehr gleich: Ihr Leben lang wurde ihnen vermittelt, dass sie anders sind, nicht der Norm entsprechen und ihnen im Vorhinein bestimmte Eigenschaften angeheftet werden – aufgrund ihres Aussehens, der Herkunft ihrer Familie oder ihrer Sexualität.

Die Musikerin Reyhan Sahin macht das am eigenen Beispiel deutlich. Als Frau mit türkischem Hintergrund, die schonungslos offen über ihre Lust und Sex rappt, sorgt sie für große Empörung, nicht nur, weil „female sexspeech“ bei uns immer noch ein großes Tabu ist, sondern auch, weil Sahin nicht ins Bild der keuschen, unterdrückten Türkin passt.

In vielen Geschichten geht es um die sich wiederholenden, diskriminierenden Alltagserfahrungen. Quasseln beispielsweise Fatma und ihre Freundin Lisa im Unterricht, heißt es fast ausnahmslos: „Fatma, hör auf zu stören“. Werden Kinder in der Schule rassistisch diskriminiert und sprechen die Eltern das an, zeigt sich meist die typische  „white fragility“, in der eine klassische Täter-Opfer-Umkehr stattfindet. Das Handeln der Lehrer*innen als rassistisch zu bezeichnen, wird dann zum Problem und nicht die Diskriminierung des Kindes. Solche Erlebnisse wirken bei den Betroffenen wie Nadelstiche. Nicht als Einzelerfahrung, sondern in der Vielzahl und den ständigen Wiederholungen sind sie so wirkmächtig, dass sie das Selbstbild äußerst negativ beeinflussen.

So wäre Vina Yun in den 1980ern nie auf die Idee gekommen, ihren weißen Freundinnen koreanisches Essen anzubieten, zu peinlich war ihr diese Andersartigkeit. Lieber gab es Tütensuppe. Heute gehören Bibimbab und Kimchi selbstverständlich zur urbanen Hippness.

Margarete Stokowski wurde als Kind eingebläut, in der Öffentlichkeit besser nicht ihre Muttersprache Polnisch zu benutzen. Selbst 30 Jahre später hat sich an der unterschiedlichen Bewertung von Sprachen nichts geändert. Wird zuhause Arabisch oder Türkisch gesprochen, ist das problematisch. Ist es Englisch, wird das als Vorteil fürs Kind ausgelegt. Es gibt die sexy Sprachen, und es gibt jene, die man lieber meiden sollte.

Bei mir als Leserin sind es vor allem die auf den ersten Blick kleinen Geschichten, die sich zusammengenommen zu etwas Großem, einem tieferdringenden Unbehagen aufbauen. Und gerade in der Vielfältigkeit der Stimmen liegt die Stärke dieses Buches. Es nimmt mich als Mitglied der weißen Mehrheitsgesellschaft in die Verantwortung zuzuhören, die unterschiedlichsten Diskriminierungserfahrungen anzuerkennen und die eigenen Denk- und Handlungsmuster zu reflektieren. Anders als die Autor*innen kann ich mich aber entscheiden, ob ich mich im Augenblick mit dem Thema Rassismus beschäftigen möchte, für sie gibt es die Option nicht. So lautet auch der erste Satz, im Text von Sasha Marianna Salzmann:

„Ich werde nie wissen, was es heißt unsichtbar zu sein.“