Direkt zum Inhalt
Image
Medientipp Der Vermessene Mensch

1896 reisen Vertreter:innen der Herero und Nama aus der Kolonie Deutsch-Südwestafrika zur Ersten Deutschen Kolonialausstellung nach Berlin. Die Delegation, der auch Friedrich Maharero, ältester Sohn des Herero-Führers Samuel Maharero, sowie die Dolmetscherin Kezia Kambazembi angehören, will sich über Deutschland informieren, diplomatische Verbindungen aufbauen und mit dem Kaiser über die schwierige Situation in ihrer Heimat sprechen. Stattdessen werden die Besucher:innen vor Ort jedoch als Spektakel der Kolonialausstellung einem sensationslüsternen Publikum wie Zootiere vorgeführt. Damit nicht genug: „Wissenschaftler“ wie der Ethnologie-Professor von Waldstätten und sein Doktorand Alexander Hoffmann, aus dessen Perspektive die Handlung erzählt wird, vermessen die Körper der Fremden. Als ginge es um die Verteilung von Experimentierkästen, bekommt jeder Student ein „eigenes Exemplar Mensch“ zugewiesen. Dabei lernt Hoffmann die Übersetzerin Kezia näher kennen und entwickelt Skepsis gegenüber der gängigen Theorie von der intellektuellen Minderwertigkeit Schwarzer Menschen.

Als es einige Jahre später in der Kolonie zum Aufstand der Herero und Nama kommt und der Kaiser zur Niederschlagung den für seine Brutalität bekannten General von Trotha schickt, nutzt Hoffmann die Gelegenheit und schließt sich den Schutztruppen an – mit der Absicht, relevante „Artefakte“ zu sammeln. In „Deutsch-Südwest“ wird er dann nicht nur Zeuge des gnadenlosen Genozids an den beiden indigenen Völkern, sondern macht sich selbst auf verschiedene Weise schuldig.

„Der vermessene Mensch“ ist der erste deutsche Kinofilm, der die kolonialen Verbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika thematisiert.

Mit dem Regisseur Lars Kraume, der sich mit preisgekrönten Arbeiten wie „Der Staat gegen Fritz Bauer“ einen Namen machte, hat er das Potenzial, eine breitenwirksame Auseinandersetzung mit einem der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte anzustoßen. Im Fokus der Betrachtung steht nicht nur der grausame Völkermord, sondern auch die Demütigung für die Opfer rassistischer Schädelvermessungen und die fanatische Sammelwut der Täter im Dienst der Anthropologie. Den Zuschauer:innen wird so die brutale Aneignung der Schädel und Artefakte, die bis heute zu Zehntausenden in den Kellern deutscher Museen lagern, visuell und somit auch emotional zugänglich gemacht. Wohl kaum eine/r, die/der  den Film gesehen hat, kann hinterher noch sagen: „Die Deutschen waren doch gar nicht so schlimm,“ – ein Satz, der immer noch viel zu oft zu hören ist.

Gleichzeitig hat „Der vermessene Mensch“ aber auch seine problematischen Seiten. Insbesondere Stimmen aus der Schwarzen Community weisen auf die Gefahr einer Retraumatisierung sowie auf die Verfestigung rassistischer Positionen durch die extremen Gewaltdarstellungen hin.

Zu Recht wird kritisiert, dass der erste reichweitenstarke Film zum Thema von einem privilegierten weißen Deutschen gemacht wurde und die Deutungshoheit der Geschehnisse somit bei den Nachfahren der Täter:innen liegt. Den Nachfahren der Opfer, aber auch Schwarzen Filmschaffenden in Deutschland blieb diese Möglichkeit trotz wiederholter Anläufe bisher verwehrt, weil die Förderung dafür fehlte. Zwar hatte gerade auch der namibische Kriminalfilm „Under the Hanging Tree“ von Perivi John Katjavivi, in dem die Kolonialgeschichte ebenfalls eine Rolle spielt, auf dem Filmfestival in Rotterdam (IFFR) Premiere. Dass dieses Werk jedoch nicht die hohe Aufmerksamkeit bekommt wie „Der vermessene Mensch“, liegt auch an einer kapitalintensiven und strukturell rassistischen Filmindustrie, in der weiße Menschen aus reichen Ländern nach wie vor die besseren Mittel zur Umsetzung und Vermarktung ihrer Ideen haben.

Kraume erzählt die Story bewusst aus Sicht der Täter. Seiner Ansicht nach wäre es vermessen gewesen, sich die Herero-Perspektive anzueignen. Genau das sei aber problematisch, da immer wieder Sympathien mit dem Protagonisten, also einem Täter, aufgebaut würden. Mit Ausnahme der Übersetzerin Kezia tauchen Nama und Herero nur als Randfiguren ohne Namen auf, als anonyme Masse Schwarzer Opfer. Dieses Dilemma hätte durch einen Schwarzen namibischen Co-Autor womöglich aufgehoben werden können.

Mein Fazit:

Der Film bietet die Chance, das Thema endlich in den Mainstream zu bringen. Für eine wirkliche Aufarbeitung der unvorstellbaren Grausamkeiten bedarf es aber vieler weiterer Arbeiten, die das Geschehen vor allem aus der Perspektive der Nama und Herero erzählen.

„Der vermessene Mensch“ von Lars Kraume, 116 Minuten, FSK 12, ab 23. März 2023 im Kino, Filmtipp von Daniela Tschuschke, erscheint auch in HABARI 01/2023 "Müll"