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erinnerung darf nicht selektiv sein

Der Bund hat eine Pflicht zur Kolonialismus-Erinnerung! Offener Brief von Organisationen der afrikanischen, asiatischen und Schwarzen Communitys und von Akteur*innen der Kolonialismus-Aufarbeitung zur novellierten Gedenkstättenkonzeption des Bundes (16.12.2025)

Am 12. November 2025 beschloss das Bundeskabinett die novellierte Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Die nach 17 Jahren aktualisierte Fassung setzt einige wenige neue Akzente im Hinblick auf Digitalisierung, auch in Reaktion auf das Versterben von Zeitzeug*innen des Nationalsozialismus. Ansonsten hält sie vor allem an der Fokussierung auf die Förderung von Gedenkstätten und Projekten zur NS-Terrorherrschaft und SED-Diktatur fest. Förderstrukturen zur Erinnerung an koloniales Unrecht und dessen Folgen sind nicht aufgenommen worden.

Als Organisationen der afrikanischen, asiatischen und Schwarzen Communitys und Akteur*innen der Kolonialismus-Aufarbeitung begrüßen wir die Fortschreibung der Förderung von Gedenkstätten- und Erinnerungsarbeit zur NS-Terrorherrschaft und zu SED-Unrecht. Zugleich protestieren wir scharf gegen die Nicht-Aufnahme von Kolonialismus-Aufarbeitung in die Gedenkstättenkonzeption. Wir fordern, dass für die Aufarbeitung von und Erinnerung an Kolonialismus vom Bund ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt, adäquate Trägerstrukturen geschaffen und Lern- und Gedenkorte in der Entwicklung unterstützt werden. Kolonialismus als staatliches Verbrechen darf in seiner Aufarbeitung nicht allein den Ländern überlassen werden.

Was ist genau passiert?

Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes regelt seit 1999 die finanzielle Beteiligung des Bundes an den Gedenkstätten und an Projekten zur Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft und der SED-Diktatur. 2008 wurde die Gedenkstättenkonzeption aktualisiert. Die vergangene Bundesregierung hatte sich zum Ziel gesetzt, sie nach über einem Jahrzehnt den veränderten gesellschaftlichen und medialen Bedingungen anzupassen.

Unter anderem beabsichtigte die damalige Kulturstaatsministerin Claudia Roth, den bisherigen Fokus auf NS- und SED-Erinnerung um weitere Felder der Erinnerungsarbeit zu erweitern, darunter neben Migrationsgeschichte vor allem die Erinnerung an den Kolonialismus. Seit Jahrzehnten fordern Communitys und Akteur*innen aus der Kolonialismus-Aufarbeitung eine stärkere Verantwortungsübernahme des Bundes für die bisher v.a. von zivilgesellschaftlichen Strukturen getragene Erinnerung an koloniales Unrecht. Zudem ist auch gesamtgesellschaftlich ein gestiegenes Interesse am Thema zu verzeichnen.

Nach starker öffentlicher Kritik an einer solchen Erweiterung entschied Claudia Roth, die Gedenkstättenkonzeption mit der bisherigen Fokussierung auf NS- und SED-Unrecht fortzuschreiben. Nun hat ihr Nachfolger Wolfram Weimer diese Fokussierung fortgeführt. Die Gedenkstättenkonzeption wurde in dieser Form vom Kabinett verabschiedet.

In der verabschiedeten Fassung der Gedenkstättenkonzeption wird Kolonialismus lediglich mit Hinweis auf die bereits laufende Provenienzforschung zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten erwähnt. Andere Maßnahmen werden nicht skizziert. Ein übergreifender Ansatz zur Auseinandersetzung mit kolonialem Unrecht fehlt nach wie vor. Damit bleibt Kolonialismus weiterhin aus der vom Bund geförderten Erinnerungskultur ausgeschlossen. Weder werden für diesen Bereich vom Bund substantielle Fördermittel zur Verfügung gestellt noch Förderstrukturen geschaffen. Auch die Umsetzung des im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellten zentralen Erinnerungsorts zu kolonialem Unrecht scheint fraglich.

Was ist das Problem?

  • Das Nicht-Aufnehmen von Kolonialismus in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes steht im eklatanten Missverhältnis dazu, dass es sich – wie bei NS- und SED-Unrecht – auch bei Kolonialismus um staatlich verübtes Unrecht handelt, für das der deutsche Staat eine Pflicht zur Erinnerung und Aufarbeitung trägt.
  • Die Entscheidung gegen das Aufnehmen von Kolonialismus in die Gedenkstättenkonzeption steht im Missverhältnis zur Tatsache, dass Kolonialismus Teil deutscher Gewaltgeschichte ist. Zu dieser Unrechts- und Gewaltgeschichte gehört die systematische und rechtlich institutionalisierte Entrechtung der kolonisierten Bevölkerung, die deren Ausbeutung durch Zwangsarbeit ermöglichte; gehören alltägliche Gewalt in Form von Prügelstrafen, Kolonialkriegen und Massenmorden, wie der Krieg gegen die sogenannte Boxer-Bewegung im nordöstlichen China, der Genozid an den OvaHerero und Nama mit schätzungsweise 80.000 Toten oder der Maji-Maji-Krieg in Ostafrika mit schätzungsweise 300.000 Toten.
  • Die Entscheidung gegen das Aufnehmen von Kolonialismus in die Gedenkstättenkonzeption steht im Missverhältnis zur Tatsache, dass Kolonialismus und der Widerstand dagegen sich auch auf deutschem Boden manifestierte: in politischen Netzwerken, in Denkmälern, Ministerien und Forschungseinrichtungen, Freizeitstätten, in botanischen Gärten, Museen und anderen Kultur- und Alltagsorten. Viele dieser Orte existieren bis heute.
  • Die Entscheidung gegen das Aufnehmen von Kolonialismus in die Gedenkstättenkonzeption ist ohne Anhörung der im Bereich Kolonialismus-Erinnerung aktiven Organisationen und relevanten Community-Organisationen erfolgt.
  • Die Schaffung eines zentralen Lern- und Erinnerungsortes zu kolonialem Unrecht gemeinsam mit dem Land Berlin – ein Ziel, das seit 2021 in den Koalitionsverträgen der Bundesregierung und seit 2016 in jenen der Berliner Landesregierung formuliert ist und eine zentrale Forderung von afrikanischen, asiatischen und Schwarzen Organisationen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Pädagog*innen darstellt – erscheint nun unrealistisch.

Wir fordern, dass der Bund seiner historischen Verantwortung gerecht wird, indem er

  • für Kolonialismus-Erinnerung ausreichend Mittel bereitstellt;
  • für Kolonialismus-Erinnerung dauerhafte und adäquate Förderstrukturen schafft wie für die Erinnerung an NS- und SED-Unrecht;
  • die Entwicklung von Lern- und Gedenkorten zur Kolonialismus-Erinnerung und -Aufarbeitung bundesweit finanziert;
  • die Entwicklung und Umsetzung eines zentralen Lern- und Erinnerungsortes zu kolonialem Unrecht umgehend angeht und sich dazu mit dem Land Berlin abspricht. Das kürzlich veröffentlichte gesamtstädtische Erinnerungskonzept "Kolonialismus erinnern" kann hierzu als Ausgangspunkt dienen;
  • für die Entwicklung und Umsetzung dieser Maßnahmen die Communitys einbindet.

Bei Decolonize Berlin kann man das Statement mitunterzeichnen! Unterzeichnende Organisationen u.a. ADEFRA e.V., Afrika-Rat Berlin Brandenburg, AfricAvenir International e.V., Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag (BER), Berlin Postkolonial e.V., Bielefeld postkolonial, Bonn Postkolonial, Decolonize Berlin e.V., Decolonize Cologne, Decolonize Weimar, Deschoolonize e.V., EPIZ Göttingen, Freiburg Postkolonial, Gesellschaft für bedrohte Völker, glokal e.V., Göttingen Postkolonial, Initiative Perspektivwechsel e.V., Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) e.V., Kassel Postkolonial, korientation. Netzwerk für Asiatisch-Deutsche Perspektiven e.V., [muc] münchen postkolonial, Postcolonial Potsdam, Rostock Postkolonial, Tanzania Network e.V.